Literatur - Was ich gerade lese!

Das kurze Leben des Ray Müller von Ralf Bönt

das kurze leben des ray müllerIch habe lange überlegt, ob der Roman Das kurze Leben des Ray Müller von Ralf Bönt nun wirklich hier seinen Platz finden soll. Ich musste nämlich den Roman für ganze zwei Wochen aus der Hand legen, weil mich die eingangs beschriebene Szene einer Geburt so berührt hat und ich aufgrund des Titels des Romans Angst davor hatte, wie es nun weitergehen mag – ja, das geschriebene Wort ist dazu in der Lage. Soll heißen, ich hatte einen schweren Start und so viel sei an dieser Stelle schon verraten, danach wird es dem Leser nicht leicht gemacht.
Marko Kindler hat sein Kind entführt“ lautet der erste Satz auf dem Buchrücken, der dort für den interessierten Leser abgedruckt ist. „Ich habe Verständnis für ihre Geschichte“ wird der Hauptfigur Marko am Ende des Romans versichert. Doch wie steht es um den Leser, wird der auch Verständnis zeigen können? Im Vordergrund der Erzählung steht nicht die Entführung des Kindes, die nimmt wie auch in Marko Kindlers Leben nur wenig Platz im Roman ein. Die volle Aufmerksamkeit liegt dafür auf der Vergangenheit Kindlers, seiner vernachlässigten Kindheit, seiner Freundschaft zur Leidensgenossin Nelly, seiner Schilddrüsenkrankheit und dem damit einhergehenden Medikamentenmissbrauch, seiner Karriere, die irgendwann mal steil verlief und der Familie, die es vor Ray und Lycile gab. All das steht den wenigen Tagen, die die Entführung dauern wird, voran – Kindler befindet sich passenderweise währenddessen schon im Verhörzimmer. Dem Leser legt er hier eine Art Bekenntnis oder viel mehr eine Erklärung ab, um das unvorstellbare Drama am Ende einzuleiten.
Ich weiß nicht, ob ich den Roman so plump herunterbrechen darf auf die Phrase „Die Zeit heilt alle Wunden“, die uns jeden Tag im Hamsterrad namens Alltag weiterrennen lässt. Bönt beweist gerade das Gegenteil, dass geschlagene Wunden nicht heilen, sondern schmerzen, und sei es „nur“ ein Phantomschmerz. Der Sog der Hoffnungslosigkeit, der von der Schilddrüsenkrankheit Marko Kindlers und dem damit verbundenen Ärzte- und Medikamenten-Teufelskreislauf ausgeht, ist beklemmend. Besonders beeindruckend ist, wie detailliert Bönt das Krankenbild und die Medikationen Kindlers beschreibt. Schon lange wurde es mir beim Lesen nicht mehr so unbequem gemacht – das ist ein Kompliment.

      Lieben Dank an den DVA Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!

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1 Comment

  • Reply
    Beatrix Petrikowski
    28. August 2015 at 18:20

    Was meiner Meinung am schwersten wiegt, ist, dass der Leser bei dem Titel etwas ganz anderes erwartet. In der Schule würde es vielleicht heißen, dass der Aufsatz nicht schlecht ist, aber das Thema verfehlt wurde. Außerdem sind weite Teile des Romans der Krankheitsgeschichte des Protagonisten (nicht seines Sohnes Ray, der eigentlich im Vordergrund stehen müsste) gewidmet und vieles in einer medizinischen Fachsprache geschrieben, das viele Leser überfordert. Insofern war das Buch für mich eine Enttäuschung.

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